Journal für politische Bildung 4/14

„Wer hat noch nicht die Hoffnung verloren? Wir!/Und dankt noch denen, die uns geboren? Wir!/Doch wer will weiter nur protestieren/bis nichts mehr da ist zum Protestieren? Ihr! Ihr! Ihr!“. Das sang Freddy Quinn zu Zeiten der Studentenbewegung und verlieh so der schweigenden Mehrheit mit ihrem Hass auf „Gammler“, Protestierer und arbeitsscheues Gesindel eine treudeutsche Stimme.
Im damaligen Klima war es nur konsequent, dass die öffentlich auftretenden Kritiker im Namen des nationalen Wir zur Räson gebracht werden mussten, dass z.B. die Schüsse auf Benno Ohnesorg und Rudi Dutschke fielen. „Wir haben genau gesehen/Wer da geschossen hat“, sang Wolf Biermann nach dem Dutschke-Attentat: „Die Kugel Nummer Eins kam/Aus Springers Zeitungswald/Ihr habt dem Mann die Groschen/Auch noch dafür bezahlt.“ Der zweite Schütze saß laut Biermann im Schöneberger Rathaus. Und: „Der Edel-Nazi-Kanzler/Schoß Kugel Nummer Drei/Er legte gleich der Witwe/Den Beileidsbrief mit bei.“ Tja, those were the days…

Die gewaltsame Niederschlagung von Protest begann übrigens nicht erst mit den legendären 68ern. Philipp Müller, ein katholischer Jungarbeiter aus Bayern, Mitglied der damals noch nicht verbotenen FDJ, starb am 11. Mai 1952 in Essen, als die Polizei auf Teilnehmer einer Demonstration gegen die bundesdeutsche Wiederbewaffnung schoss. Der zuständige Kommissar „erteilte Schießbefehl auf die Demonstrierenden, später wurde behauptet, diese hätten auf die Polizei geschossen, die dann dazu gezwungen gewesen sei, das Feuer zu erwidern. Zwei Kugeln trafen Müller… Durch Polizeikugeln schwer verletzt wurden außerdem der Sozialdemokrat Bernhard Schwarzer und der Gewerkschafter Albert Bretthauer. Das Landgericht Dortmund stufte die Schüsse mit Urteil vom 2. Oktober 1952 als Notwehr ein. Schusswaffengebrauch von Demonstranten konnte nicht nachgewiesen werden. Dutzende Jugendliche wurden festgenommen, elf von ihnen später zu Gefängnisstrafen bis zu zwei Jahren verurteilt.“ (Wikipedia)

Heute, im vereinten Deutschland, nachdem die 89er Generation es geschafft hat, mit einer Reihe von Nachtgebeten und Montagsdemonstrationen ein ganzes Regime zum Einsturz zu bringen, ist die Situation natürlich ganz anders: Wenn man nichts stört und behindert, die Auflagen der Polizei befolgt, sich rundum abfilmen und -fotografieren lässt etc., darf man nach Herzenslust demonstrieren und protestieren. Die neue Situation thematisiert das vorliegende Heft. Benedikt Widmaier (Heppenheim), Mitglied der Journal-Redaktion, zeigt eingangs, dass heute Protest als Motor von Demokratieentwicklung verstanden, ja angesichts von Postdemokratie geradezu eingefordert wird. Protest stellt aber nach wie vor ein Störpotenzial dar, so dass sich für den politischen Betrieb die Notwendigkeit seiner Kanalisierung oder Neutralisierung ergibt. Thema ist dies in dem nachfolgenden Beitrag von Dr. Jana Trumann (Universität Duisburg-Essen).

Die Erziehungswissenschaftler Prof. Arne Schäfer (Wiesbaden) und Prof. Matthias D. Witte (Mainz) gehen auf „Protest als Lernfeld im Jugendalter“ ein; sie haben dafür das Beispiel der Fußballfans gewählt, deren Protestkultur gemeinhin als unpolitisch oder als Problemfall gilt. Die „dunkle Seite der Zivilgesellschaft“ nimmt dann Prof. Fabian Virchow (FH Düsseldorf) in Augenschein; hier geht es um die vielfältigen Formen des Protests, wie sie bei der extremen Rechten zu verzeichnen sind. Den Abschluss bildet ein Streiflicht von Johannes Schillo (Redaktion Journal) zur Friedensbewegung, die in Deutschland eine lange Tradition hat und nach 1945 bemerkenswerte Konjunkturen, auch mit Auswirkungen auf entsprechende pädagogische Bemühungen, erlebte.

Außerhalb des Schwerpunkts gibt es unter QuerDenken zunächst einen Überblick zum Praxisfeld der internationalen Fachdienste, die das Journal in seiner Nr. 2/14 (Freiwilligendienste als Bildung) am Rande erwähnt hatte: Vinzenz Bosse (Bonn) informiert über die Arbeit der Akademie für Internationale Zusammenarbeit (AIZ). Dem folgt ein kurzer Essay „in polemischer Absicht“ von Prof. Arian Schiffer-Nasserie (FH Bochum), die Schwierigkeiten von schulischer und außerschulischer Kooperation betreffend. Rainer Gries (St. Augustin), der lange Jahre in der politischen Bildung tätig war, resümiert dann unter der Rubrik ÜberGrenzen aktuelle Herausforderungen für eine europapolitische Arbeitnehmerweiterbildung.

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